Charlotte Kerr, geboren am 29. Mai 1927 in Frankfurt am Main, gestorben am 28. Dezember 2011 in einer Berner Klinik, war eine deutsche Schauspielerin, Regisseurin, Produzentin und Autorin. Als zweite Ehefrau und spätere Witwe des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt (1921 – 1990) gewann sie Einfluss auf die Produktion, Rezeption, Langfristigkeit und Institutionalisierung des Werkes eines der bedeutendsten Schriftsteller der Welt, das in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur wohl kaum oft zu finden ist. Charlotte Kerrs erste Ehe war mit dem Filmproduzenten Harry R. Sokal (1898 – 1979).

Ihre erste hochgelobte Bühnenrolle spielte Kerr 1951 in Fritz Kortners Produktion von Schillers „Don Carlos“. 1967 hatte sie zusammen mit Horst Tappert einen beliebten Auftritt im Unterhaltungsfilm „Heisser Sand auf Sylt“, wo sie die Frau des Unternehmers Bergmann spielte. In ihrer letzten Spielfilmrolle, in Volker Schlöndorffs „Un amour de Swann“ nach Marcel Proust, spielte sie 1984 einen Bordellboss, eine Figur, die in das eine oder andere Dürrenmatt-Theaterstück passen würde. Damals drehte sie selbst einen Film über die griechische Schauspielerin Melina Mercouri. Sie interessierte sich auch weiterhin für das Theater, weshalb sie Friedrich Dürrenmatt im Zusammenhang mit der Produktion des Stücks „Achterloo“ kennenlernte. 1984 heiratete sie den weltberühmten Schriftsteller, dessen erste Frau Lotti etwa zwei Jahre zuvor gestorben war.

Charlotte Kerr wird zugeschrieben, dass Friedrich Dürrenmatt, der sich in einem schlechten Gesundheitszustand befand und nicht frei von Alkohol- und Tablettenabhängigkeit war, fast wider Erwarten nach einem brillanten und einzigartigen philosophisch-poetischen Spätwerk streben konnte. Charlotte Kerr führte ihren Mann, der seit Jahrzehnten auf einem Hügel bei Neuenburg lebte, nicht nur zu einem Spaziergang mit dem legendären roten Maserati, sondern wusste auch, wie man Dürrenmatts Dämmerungsjahre mit Struktur und – in ihrer Eigenschaft als Muse – mit kreativer Disziplin bereichert. Vorbei waren die Zeiten, in denen andere betrunkene Schriftsteller in der Lage waren, bei nächtlichen Telefonaten eine Art orgiastischen Austausch mit dem nicht minder betrunkenen Dichterfürsten zu führen. Zu diesem Zweck wurde in diesen Jahren ein Werk geschaffen, das wahrscheinlich eine völlig unabhängige und unvergleichliche Dimension in der deutschen und internationalen Literatur darstellt.

Der Nachlass von Friedrich Dürrenmatt gewann für die Literaturgeschichte der Schweiz umso mehr an Bedeutung, da er den Stiftungsfonds des Schweizerischen Literaturarchivs in Bern bildet. Darüber hinaus wurde die Residenz Dürrenmatt mit der dynamischen Beteiligung der Witwe zum „Centre Dürrenmatt“, der Dauerausstellung von Dürrenmatts Gemälden und Zeichnungen, und mit den entsprechenden Dokumentationen über Dürrenmatts Schreiberlaufbahn zu einer der bestmöglichen Einführungen in Leben und Werk eines Autors ausgebaut, die heute weltweit der Öffentlichkeit präsentiert werden können. Das von Mario Botta entworfene „Centre Dürrenmatt“ verbindet das Werk eines der brillantesten Schweizer Schriftsteller mit dem eines der besten Architekten.

Eine der reizvollsten Witwenbegegnungen in der Geschichte der Schweizer Literatur, das Treffen von Marianne Frisch-Oellers, Ex-Frau von Max Frisch, und Charlotte Kerr, sollte im September 2010 anlässlich des 10-jährigen Bestehens des „Centre Dürrenmatt“ stattfinden. Die beiden hochgebildeten Damen, beide ausgebildete Schauspielerinnen, konnten sich nicht finden, weil Frau Frisch, die der Verfasser dieses Nachrufs in Zürich mit dem Auto abgeholt haben sollte, kurzfristig krank war. Frau Kerr, eine sehr freundliche Gastgeberin, bedauerte sehr die Abwesenheit von Frau Frisch und hoffte auf eine spätere Gelegenheit. Dies ist nicht mehr der Fall.

Trotz all ihrer unbestreitbaren Vorteile entwickelte sich Charlotte Kerr zu einer professionellen Witwe, die sich ihr verstorbener Mann für ein absurdes Theater nicht besser vorstellen konnte. Einer der wichtigsten ehemaligen Freunde Dürrenmatts, der Schriftsteller Hugo Loetscher (1929 – 2009), wurde damit in einem Prozess konfrontiert, in dem es um die Frage ging, ob und wie die Hände eines genialen Autors und einer Leiche der Weisen „zusammengelegt“ oder gar „gefaltet“ worden sein könnten. Selbst Dürrenmatts schwerster Empfänger in Deutschland, der Literaturvermittler Heinz Ludwig Arnold (1940 – 2011), wurde von Frau Kerr mit einem Prozess belästigt.